Deutschlands digitale Schlafmützen? Wir sind viel besser als wir denken.
Kaum ein Tag ohne mediale Horrormeldung: „Wir verschlafen die digitale Zukunft“, „Schlusslicht Deutschland“ oder „Online Servicewüste“. Unzweifelhaft werfen manche große Leuchtturmprojekte– der digitale Personalausweis, die digitale Patientenakte oder der Innovationsstau in unseren Amtsstuben – einen Schatten auf die digitale Landschaft der Bundesrepublik. Wie so oft aber lohnt sich ein tieferer Blick, will man die digitale Lage ernsthaft beurteilen.
Und wenn man dann genauer hinschaut, stellt man fest, dass es beim Digitalisierungsgrad riesige Unterschiede gibt. Die deutschen „Kernbranchen“ Automotive, Elektro und Maschinenbau sowie Informations- und Kommunikationstechnik sind den anderen Branchen weit voraus und nehmen auch weltweit Spitzenpositionen ein. Andere Branchen wie Handel, Verkehr und Logistik und Tourismus haben dagegen noch einen großen Nachholbedarf.
Auch regional beobachten wir völlig unterschiedliche Digitalisierungsgrade. Deutschland ist ein aus historischen Gründen ungleich industrialisiertes Land. Es existiert ein hohes bis sehr hohes Niveau an Digitalisierung in den Ballungsräumen und großen Städten – insbesondere im Süden der Republik. Im ländlichen Raum dagegen ist von Digitalisierung oft nicht viel zu spüren, vom lahmenden Breitbandausbau über den Fachkräftemangel bis hin zu fehlender Industrie als Treiber für lokale Digitalisierung. Auch wenn es im Vergleich zum Vorjahr eine Erhöhung des Digitalisierungsgrades im ländlichen Raum gab, ist der Abstand zu den Ballungsräumen signifikant.
Auch die Unternehmensgröße spielt für den Grad der Digitalisierung eine große Rolle. Großunternehmen sind die Treiber, KMU dagegen oftmals abgehängt. Und der größere Mittelstand als Deutschlands wirtschaftliches Rückgrat hängt irgendwo dazwischen. Ein Beispiel: Weniger als ein Drittel der Unternehmen (29 Prozent) tauscht Informationen auf elektronischem Wege aus, und nur 18 Prozent der KMU stellen elektronische Rechnungen aus. In beiden Feldern hat Deutschland in den letzten Jahren leider kaum Verbesserungen erzielt. Und dann traf auch noch Corona auf diese gespaltene digitale
Wirtschaft. Ohne wirkliche Vorbereitungszeit mussten Unternehmen plötzlich Homeoffice-Möglichkeiten schaffen und Prozesse digital gestalten. Hat das denn geklappt? Zumindest blieben doch die meisten mit mehr oder weniger Anlaufzeit arbeitsfähig, und die vorhergesagte Pleitewelle ging an den
Unternehmen und stationären Händlern vorbei. Bei genauerer Betrachtung wurde der komplette Fokus der Digitalisierungsanstrengungen zu Recht auf den laufenden Betrieb gerichtet, also die Optimierung und Digitalisierung des Tagesgeschäfts. Auf Rang 3 steht Deutschland im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht da wie befürchtet und wie einen die meisten Berichte glauben lassen. Was dagegen nicht digitalisiert wurde – und auch wahrscheinlich nicht oder nur ein Teilen digitalisiert werden kann – sind die kreativen Bereiche der Arbeitswelt wie Forschung & Entwicklung,
Marketing, etc.
Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man sich die Entwicklung der Patentanmeldungen als ein Indikator für Kreativität einmal genauer ansieht: Die größten Treiber der Patentanmeldungen sind die Großunternehmen aus den Ballungsräumen wie Siemens, Siemens Energy, Continental und Robert Bosch, also genau die Vorreiter der Digitalisierung. Trotzdem ging für 2020 (letztes Jahr mit vorliegenden Zahlen) die Zahl der Patentanmeldungen
aus Deutschland beim EU-Patentamt um 3 % gegenüber 2019 zurück, nachdem sie bis dahin jedes Jahr kontinuierlich gestiegen ist. Zufall oder Auswirkung des verteilten Arbeitens mit weniger persönlicher Interaktion? Wir werden diese Frage beantworten müssen, um uns für die Zukunft zu wappnen.
Welche Hausaufgaben haben wir also zu machen?
1. Grundsätzlich sollten wir viel konsequenter große Leuchtturmprojekte in Frage stellen, das gilt für den Staat wie für Unternehmen. Eine Politik der kleinen Schritte nimmt Mitarbeiter eher mit und das Risiko eines gesamthaften Scheiterns wird minimiert.
2. Mehr Fachkräfte schaffen – der Fachkräftemangel ist heute bereits eines der größten Hemmnisse für weitere Digitalisierung. Es müssen neue Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung geschaffen und Anreize dafür gegeben werden – auch und gerade für Mädchen und Frauen.
3. Wir müssen Überlegungen anstellen, ob und wie der kreative Teil der Arbeit durch Digitalisierung unterstützt werden kann, um für die Zukunft vorzusorgen.
4. Der Ausbau des Breitbandinternets muss deutlich forciert und zügig abgeschlossen werden. Wir können es uns schlicht gesamtökonomisch nicht leisten, ganze Regionen in der Offline-Diaspora zu vergessen – ein Stichwort: beschleunigte und vereinfachte Planfeststellungsverfahren ohne wiehernden Amtsschimmel.
5. Digitale Services von öffentlicher Hand müssen endlich deutlich ausgeweitet werden, der Bürger als Kunde in den Fokus rücken und digitale öffentliche Services als Normalität erfahren werden. Vorbilder gibt es, etwa in den baltischen Ländern, reichlich.