Prozessdigitalisierung: Von der Allmacht in die Ohnmacht – und zurück?

Herzlichen Glückwunsch! Die Digitalisierung wurde im vergangenen Jahr 50 Jahre alt. Im Jahr 1971 setzte der Versand der ersten E-Mail nichtsahnend eine neue industrielle Revolution in Gang, die, ganz im Sinne des Mooreschen Gesetzes, scheinbar unendlich an Geschwindigkeit und Komplexität gewinnt. Dabei soll sie im Rahmen der Digitalisierung gemäß aller Verheißungen aus dem Silicon Valley eigentlich das Gegenteil bewirken: nämlich Dinge vereinfachen, automatisieren und transparenter machen. Der selbst ernannte Effizienzweltmeister Deutschland hinkt leider im Wettkampf um die besten digitalen Lösungen nach wie vor hinterher. Wir haben zwar in einigen Nischen echte (Hidden) Champions, aber unter den großen Tech-Konzernen findet sich nach wie vor nur die SAP im Reigen der globalen Prominenz. Und auch laut einer aktuellen IFO-Studie, dümpelt Exportweltmeister Deutschland im digitalen Mittelfeld. Ein Grund hierfür mag sich in der deutschen Wirtschaftsgeschichte wiederfinden, mit stark industrieller Prägung. Über Jahrzehnte haben wir gelernt, bestehende Lösungen immer weiter zu verbessern, ohne das große Ganze jemals in Frage zu stellen. Der langjährige Erfolg dieses Weges hat jedoch unsere Fähigkeit, Dinge radikal und komplett neu zu denken und demnach zu handeln komplett verkümmern lassen. Wir denken komplexe Dinge einfach nicht End-to-End oder gar von Grund auf neu – beides Grundprinzipien einer erfolgreichen digitalen Transformation.

Woran es dann in der Praxis meist hapert, zeigt das Beispiel Prozessdigitalisierung, der heilige Gral in unserem Digitalisierungsverständnis.

Die deutsche Technikbrille; Fluch und Segen zugleich

Unser Blick auf das Thema Prozessdigitalisierung ist häufig und historisch bedingt viel zu eindimensional und rein auf die technische Dimension beschränkt. Dabei hat doch bereits im Jahr 1965 Harold Leavitt die vier relevanten Handlungsebenen für Unternehmen klar herausgearbeitet: Aufgabe, Technik, Mensch und Organisationsstruktur. Dabei liegt der Fokus auf den Beziehungen und Abhängigkeiten dieser vier Parameter untereinander, die nur bei gemeinsamer Betrachtung zum Erfolg führen können.

Die rasante technologische Entwicklung unserer Zeit hat an diesem Relationsmuster nichts verändert, im Gegenteil, seine Relevanz noch deutlich erhöht. Allein: Hierzulande bleibt es meist bei der sklavischen Fokussierung auf die Technik im Rahmen kleiner homöopathischer Verbesserungen. Ein fataler Trugschluss, ist die Prozessdigitalisierung doch eigentlich ein potenzieller Gamechanger mit Blick auf Automatisierung und Kosteneffekte. Im Management aber fehlt zu häufig der holistische Blick, eine ganzheitliche (Bedarfs)Analyse und damit auch eine entsprechend abgeleitete übergeordnete Strategie. Auch fehlt das Verständnis für ein entsprechendes Prozessmanagement im digitalen Zeitalter. Unser Ansatz ist es viel zu oft, nach dem bottom-up-Prinzip einzelne technische Hilfsmittel und Lösungen zu identifizieren. RPA oder Chatbots werden Hals über Kopf implementiert und damit noch mehr Schnittstellen, Komplexität und Aufwand geschaffen, statt zu vereinfachen – ohne den Blick für das Ganze System.

So werden meist lokale, operative und organisatorische Probleme kurzfristig vermeintlich gelöst, eine fehlende Orchestrierung führt aber mittel- und langfristig zu höheren Aufwänden, noch mehr Schnittstellenproblemen, bisweilen einer wild wuchernden IT-Architektur, die durch maximale Intransparenz geprägt ist und potenziell notwendige Türen in die Zukunft bereits heute verschließt.

Wir müssen begreifen, dass die Digitalisierung von Prozessen zum einen beileibe nichts neues ist und lediglich „nur“ eine von vielen Optimierungsmöglichkeiten, für die aber mindestens derselbe Aufwand und die gleiche Management Attention notwendig ist wie für alle großen Projekte, will man wirklich nachhaltige Ergebnisse erzielen.

Die Handlungsschritte im Rahmen einer gelungenen digitalen Prozesstransformation ähneln somit bekannten Mustern:

  1. Thematik verstehen: Ernsthafte und nachhaltige Beschäftigung mit der vermeintlich eingestaubten Thematik Prozessmanagement und den korrespondierenden Optimierungsmöglichkeiten und Sensibilisierung der wesentlichen Stakeholder
  2. Prozessreifegrad formulieren: Sich ehrlich machen und den tatsächlichen Status Quo neben die angestrebten Ziele stellen, um reale Abweichungen zu identifizieren
  3. Optimierungsszenarien aufsetzen: Ausarbeitung von quantifizierbaren Optimierungsszenarien, deren Impact sowie den korrespondierenden KPIs
  4. Nachhaltig managen: Proaktives und permanentes Management der sich aus den Prozessen ergebenden KPIs inkl. Einhergehender Anpassungsbedarfe